Die Bedeutung des religiösen Faktors in der Entwicklungszusammenarbeit wird zunehmend anerkannt. Ist es in diesem Zusammenhang von Vorteil, eine christliche Organisation zu sein?
Die Realitäten religiöser Gemeinschaften wurden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend aus der Entwicklungszusammenarbeit ausgeklammert. Der Grund dafür war eine westliche, rationale und säkulare Sicht der Gesellschaft, die spirituelle und religiöse Überzeugungen als Ursache für einen technologischen und intellektuellen Rückstand betrachtete. Heute „bleibt das Thema zwar heikel, aber die internationale Gemeinschaft erkennt zunehmend die Bedeutung von Religion für die Entwicklungszusammenarbeit und die Konflikttransformation an“, sagt Pierre-Alain Eltschinger, Sprecher des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
„Da sie oft eine wichtige Quelle ist, aus der Menschen ihre Werte schöpfen, und einen Einfluss auf das Denken und Handeln hat, spielt die Religion eine grosse Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit,“ fährt er fort. Sie beeinflusst das Leben, die Erfahrungen, die Arbeit und die Überzeugungen.“ All dies muss also in die Überlegungen zu den Programmen der Entwicklungszusammenarbeit von NGOs einbezogen werden.
Dennoch kann die Akzeptanz dieser kulturellen Komponenten an ihre Grenzen stossen, wenn religiöse Überzeugungen Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen. Aber selbst in solchen Situationen führt das Ignorieren der Überzeugungen, die diesen Verletzungen zugrunde liegen, nicht zu einer Verbesserung der Situation. Um Verhaltensänderungen zu erreichen, ist es daher von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, was die Empfänger und Empfängerinnen als Rechtfertigung für menschenrechtswidrige Praktiken ansehen.
Haben glaubensbasierte Organisationen in diesem Prozess eine besondere Rolle zu spielen und einen Vorteil? Benjamin Gasse, Geschäftsführer der NGO Morija, meint: „Über Mitarbeitende zu verfügen, die einen persönlichen Glauben pflegen, ermöglicht ein besseres Verständnis der Denkweisen in Kontexten, in denen der religiöse Faktor alle Bereiche der Gesellschaft beeinflusst.“ Er nennt als Beispiel: „Bei unserer Arbeit zur Feststellung von Behinderungen treffen wir nicht selten auf Christen und Christinnen, die die Behinderung ihres Kindes als Fluch für ihre Familie empfinden und sich dafür entscheiden, sie zu verbergen. Wenn man Mitarbeitende hat, die diese Kraft und das Gewicht der Tradition verstehen und die ebenfalls dem christlichen Glauben angehören, kann man die Situation besser verstehen und eine angemessene Botschaft vermitteln.
Auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Akteuren kann dadurch erleichtert werden: „Unsere auf dem Glauben basierende Identität ist eine Stärke in Gemeinden, in denen alle an etwas glauben. Das beruhigt die religiösen Führer (Animist:innen, Muslim:innen, Christ:innen) und ermöglicht es uns, das Vertrauen der Empfängergemeinschaft zu gewinnen, in Gegenden, in denen es sehr selten ist, Atheist:in oder Agnostiker:in zu sein“.
Die Herausforderung für die glaubensbasierte Organisationen besteht darin, Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit nicht dazu zu nutzen, die Empfänger und Empfängerinnen zu einer religiösen Bekehrung zu bewegen“, betont Christian Willi, Geschäftsleiter der NGO Compassion. Glücklicherweise gibt es viele glaubensbasierte Organisationen, die sich dagegen wehren und darauf bestehen, dass Unterstützung ohne Diskriminierung und Proselytismus geleistet wird. So heisst es beispielsweise im Verhaltenskodex für christliche Entwicklungsorganisationen, die Mitglieder von Interaction sind, dass „jede Form von Machtmissbrauch, Zwang oder Manipulation im religiösen Bereich vermieden wird.“
Dieser Artikel wurde Joëlle Misson-Tille verfasst und die Originalversion im Rahmen einer Partnerschaft mit Christianisme Aujourd’hui veröffentlicht. Foto: Compassion.